Augen, die strahlen, wie die eines Kindes
«Wie schön, dass du wieder hier wohnst», entgegnet sie dann. Ich hatte bereits als Kind einmal in diesem Haus gelebt und war wieder dahin zurückgekehrt, um allein dort zu wohnen. Wir sprechen noch über ein paar Dinge, über welche wir schon unzählige Male gesprochen haben.
Es erfreut mich das meine Nana, so nennen wir unsere Grossmutter, sich immer wieder von neuem darüber freuen kann, dass ich hier wohne. Und es macht mich traurig. Es macht mich traurig, weil diese Freude manchmal innert wenigen Minuten, manchmal innerhalb weniger Tage wieder vergessengeht. Ist es ein unwürdiger Zustand? Manchmal. Wenn Menschen vergessen, dass sie auf Toilette müssen. Wenn vergessende Menschen ganz verwirrt sind und nicht mehr wissen wer und wo sie sind.
Für Angehörige ist es trauriger mit einer vergessenden Person zusammenzuleben als für die Person selbst. Manchmal werde ich ganz traurig, wenn ich mit meiner Nana spreche. Wenn sie mich mit Augen, die strahlen, wie die eines Kindes ansieht und kurz darauf alles vergessen hat. Niemals könnte ich wütend sein mit meiner Nana, wenn sie mich innert zehn Minuten dreimal das Gleiche fragt. Könnte es nicht sein, dass es meiner Nana so gut geht wie noch nie? Keine Sorgen und Probleme mehr. Von Tag zu Tag leben und nie zu wissen was gestern war und heute ist und morgen sein wird. Ich habe kein Mitleid mit ihr, sondern freue mich, wenn es ihr gutgeht und ich mich mit ihr unterhalten kann.
Ich stelle mir ihr Leben, wie das eines Kindes vor. Eines unschuldigen Kindes, das keine Sorgen kennt und mit dem lebt was es hat. Darum denke ich, dass es kein unwürdiger Zustand ist. Es gibt nichts zu bemitleiden, nicht etwa aus Kaltherzigkeit, sondern weil vergessende Menschen glücklich und zufrieden sein können wie ein Kind. Man kann ihnen nicht böse sein.
Nach einem erfüllten Leben es so einfach zu haben, da freue ich mich für meine Nana. Wenn sie einen ansieht mit ihren grossen schuldlosen klaren blauen Augen und mit mir spricht, dann kann ich nicht anders als an ein Kind zu denken und mich zu freuen. Ich, der noch wusste wie sie war, für mich ist es kein Problem zu akzeptieren wie sie nun ist. Anders meine Schwester. Sie kann sich nicht mehr daran erinnern als unsere Nana noch nicht an Demenz litt. Sie kann nicht damit umgehen, sie möchte es nicht akzeptieren, dass ihre Grossmutter wie ein Kind ist. Doch das wird schon. Wenn sie einmal wissen möchte wie sie war, wenn unsere Nana nicht mehr ist, dann kann ich meiner Schwester mit einem Lächeln im Gesicht von ihr erzählen.
Einige Male war es wirklich schlimm. Einmal kam unsere Nana zu Besuch und war verwirrt. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Das ist das Traurigste was es gibt. An diesem Tag weinte ich bitterlich, ganz allein in meinem Zimmer, weil ich so traurig darüber war. Zum Glück kann ich gute Erinnerungen an sie behalten, wenn sie einmal nicht mehr ist. Es ist schon in Ordnung so wie es ist, da ich mich darauf freuen kann mich mit ihr bald wieder über Belangloses zu unterhalten. Vielleicht schon heute. Und freuen auf die Augen, die strahlen wie die eines Kindes.